Das sechste Kapitel

Es weckte sie die Hitze. Sie kam zu Bewusstsein von einer Glut, die auf der Haut brannte wie das Eisen des Henkers.

Sie konnte den Kopf nicht bewegen, etwas hielt ihn fest. Sie gab sich einen Ruck und heulte vor Schmerz auf, als sie fühlte, wie die Haut an der Schläfe riss und aufplatzte. Sie öffnete die Augen. Der Stein, auf dem ihr Kopf geruht hatte, war bräunlich von verkrustetem und getrocknetem Blut. Sie betastete ihre Schläfe, fühlte unter den Fingern einen harten, verklebten Schorf. Der Schorf war an dem Stein festgeklebt und bei ihrer Kopfbewegung abgerissen, jetzt sickerten Blut und Lymphe hervor. Ciri hustete, räusperte sich, spuckte Sand zusammen mit dickem, klebrigem Speichel aus. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, dann setzte sie sich auf, schaute sich um.

Überall umgab sie eine steinige, schwarz-rote, von Rissen und Terrassen zerschnittene Ebene, die sich mancherorts zu Steinhaufen oder zu riesigen Felsblöcken von sonderbaren Formen auftürmte. Über der Ebene, hoch oben, hing eine große, goldene, glühende Sonne, die den ganzen Himmel gelb färbte, durch ihre blendende Helle und das Zittern der Luft die Sicht verzerrte.

Wo bin ich?

Sie berührte vorsichtig die aufgeschlagene, angeschwollene Schläfe. Es tat weh. Es tat sehr weh. Ich muss einen tüchtigen Purzelbaum geschlagen haben, dachte sie, gründlich über den Boden geschrammt sein. Auf einmal kam ihr die durchgescheuerte und zerrissene Kleidung zu Bewusstsein, und sie entdeckte neue Herde des Schmerzes – im Kreuz, auf dem Rücken, am Arm, an den Oberschenkeln. Beim Sturz waren der Staub, der scharfe Sand und Splitt überall hingelangt – in die Haare, in die Ohren, in den Mund wie auch in die Augen, die brannten und tränten. Es brannten die Handflächen und Ellenbogen, wo die Haut bis aufs Fleisch abgeschürft war.

Vorsichtig und langsam streckte sie die Beine und ächzte abermals, denn das linke Knie reagierte auf die Bewegung mit einem durchdringenden dumpfen Schmerz. Sie betastete es durch das unversehrte Leder der Hose hindurch, fühlte aber keine Schwellung. Beim Einatmen spürte sie ein bösartiges Stechen in der Seite, und der Versuch, den Rumpf zu beugen, ließ sie beinahe aufschreien, von einem scharfen Krampf durchzuckt, der sich im unteren Teil des Rückens meldete. Ich bin vielleicht zerschlagen, dachte sie. Aber gebrochen habe ich mir anscheinend nichts. Wenn ich mir Knochen gebrochen hätte, würde es schlimmer wehtun. Ich bin heil, nur ein bisschen lädiert. Ich werde aufstehen können. Und werde es tun.

Ganz langsam, mit vorsichtigen Bewegungen änderte sie ihre Haltung, kniete sich unbeholfen hin, wobei sie das zerschlagene Knie zu schonen versuchte. Dann stellte sie sich auf alle viere, stöhnend, ächzend und fauchend. Schließlich, nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, stand sie auf. Nur um sofort schwer auf die Steine zu stürzen, denn ihr wurde schwarz vor Augen, und der Schwindel riss ihr augenblicklich die Beine weg. Sie spürte eine heftige Welle von Übelkeit und legte sich auf die Seite. Die aufgeheizten Steinbrocken brannten wie glühende Kohlen.

»Ich werde nicht aufstehen  ...«, schluchzte sie. »Ich kann nicht  ... Ich werde in dieser Sonne verbrennen  ...«

Im Kopfe hämmerte ein dumpfer, böser, unablässiger Schmerz. Jede Bewegung ließ ihn stärker werden, also hörte Ciri auf, sich zu bewegen. Sie bedeckte den Kopf mit dem Arm, doch die Hitze wurde rasch unerträglich. Sie erkannte, dass sie trotz allem vor dieser Hitze fliehen musste. Sie überwand den lähmenden Widerstand des geschundenen Körpers, kniff ob des stechenden Schmerzes in den Schläfen die Augen zusammen und kroch auf allen vieren zu einem der größeren Felsbrocken hin, den die Winde in die Gestalt eines sonderbaren Pilzes geschliffen hatten, so dass sein formloser Hut ein wenig Schatten spendete. Hustend und schniefend krümmte sie sich zusammen.

Lange lag sie so da, bis die am Himmel entlangziehende Sonne sie wieder mit dem herabströmenden Feuer erreichte. Sie rutschte auf die andere Seite des Felsens, nur um festzustellen, dass es nichts nützte. Die Sonne stand im Zenit, der steinerne Pilz spendete praktisch keinen Schatten mehr. Sie presste die Hände gegen die vor Schmerz berstenden Schläfen.

Sie wurde von einem Zittern geweckt, das ihren ganzen Körper erfasst hatte. Die Feuerkugel der Sonne hatte den blendenden Goldschein verloren. Jetzt, da sie schon tiefer stand, über den zerklüfteten, gezackten Felsen, war sie orange. Die Hitze hatte etwas nachgelassen.

Ciri setzte sich mit Mühe auf, schaute sich um. Der Kopfschmerz war zurückgegangen, nahm ihr nicht mehr die Sicht. Sie betastete den Kopf und stellte fest, dass die Hitze den Grind an der Schläfe verbrannt und ausgetrocknet und eine feste, glatte Schale daraus gemacht hatte. Doch noch immer tat ihr der ganze Körper weh, es schien darin keine heile Stelle zu geben. Sie hustete, fühlte den Sand zwischen den Zähnen knirschen, versuchte auszuspucken. Vergeblich. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den pilzförmigen Felsen, der noch immer heiß von der Sonne war. Endlich hat die Hitze aufgehört, dachte sie. Jetzt, da die Sonne nach Westen geht, ist es schon auszuhalten, aber nicht lange  ...

Bald wird die Nacht hereinbrechen.

Sie zuckte zusammen. Wo, zum Teufel, bin ich? Wie komme ich hier weg? Und wohin? Wohin soll ich gehen? Oder vielleicht rühre ich mich nicht vom Fleck, vielleicht warte ich, bis man mich findet? Denn sie werden mich ja suchen. Geralt. Yennefer. Sie werden mich ja nicht alleinlassen  ...

Wieder versuchte sie auszuspucken, und wieder wurde nichts daraus. Und da verstand sie.

Durst.

Sie entsann sich. Schon seinerzeit während der Flucht hatte Durst sie gequält. Am Sattelknauf des Rappen, den sie auf der Flucht aus Garstang geritten hatte, ehe sie zum Möwenturm lief, hatte eine hölzerne Flasche gehangen, sie erinnerte sich genau daran. Doch damals hatte sie die Flasche weder losmachen noch mitnehmen können, sie hatte keine Zeit gehabt. Und jetzt war die Flasche nicht da. Nichts war jetzt da. Nichts außer den scharfen heißen Steinen, außer dem die Haut spannenden Grind an der Schläfe, außer dem Schmerz im Körper und der verkrampften Kehle, der sie nicht einmal dadurch Erleichterung verschaffen konnte, dass sie Speichel schluckte.

Ich kann nicht hierbleiben. Ich muss gehen und Wasser finden. Wenn ich kein Wasser finde, sterbe ich.

Sie versuchte aufzustehen, verletzte sich die Finger an dem steinernen Pilz. Sie stand auf. Tat einen Schritt. Und fiel stöhnend auf alle viere, von einem trockenen Brechreiz ergriffen. Krämpfe und Schwindel überfielen sie, so stark, dass sie wieder eine liegende Position einnehmen musste.

Ich bin machtlos. Ich bin allein. Wieder. Alle haben mich verraten, verlassen, alleingelassen. So wie einst  ...

Ciri fühlte, wie eine unsichtbare Zange ihr die Kehle zudrückte, wie sich schmerzhaft die Wangenmuskeln verkrampften, wie die aufgeplatzten Lippen zu zittern begannen. Es gibt keinen widerwärtigeren Anblick als eine weinende Zauberin, fielen ihr Yennefers Worte ein. Aber  ... aber hier sieht mich ja niemand  ... Niemand  ...

Unter dem steinernen Pilz zusammengerollt, begann Ciri zu schluchzen, von einem trockenen, schrecklichen Weinen ergriffen. Einem Weinen ohne Tränen.

Als sie die geschwollenen, sich widersetzenden Lider hob, stellte sie fest, dass die Hitze etwas erträglicher geworden war und der noch unlängst gelbe Himmel die ihm zustehende kobaltblaue Farbe angenommen hatte, sogar, o Wunder, von dünnen weißen Wolkenstreifen durchzogen war. Die Sonnenscheibe war rötlich geworden, tiefer gesunken, schoss aber nach wie vor Wogen sengender Hitze auf die Wüste herab. Oder kam sie vielleicht von den aufgeheizten Steinen?

Sie setzte sich auf und stellte fest, dass der Schmerz im Schädel und in dem zerschlagenen Körper sie nicht mehr so sehr bedrückte. Dass er jetzt nicht mehr mit der saugenden Qual im Magen und dem grausamen, zum Husten zwingenden Brennen in der ausgetrockneten Kehle zu vergleichen war.

Nicht unterkriegen lassen, dachte sie. Ich darf mich nicht unterkriegen lassen. So wie in Kaer Morhen muss ich aufstehen, Schmerz und Schwäche in mir überwinden, besiegen, abtöten. Ich muss aufstehen und gehen. Jetzt kenne ich wenigstens die Richtung. Wo jetzt die Sonne steht, ist Westen. Ich muss gehen, Wasser finden und etwas zu essen. Ich muss. Sonst komme ich um. Das ist die Wüste. Es hat mich in eine Wüste verschlagen. Das, wo ich im Möwenturm hineingegangen bin, war ein magisches Portal, eine Vorrichtung der Zauberer, mit deren Hilfe man sich über große Entfernungen fortbewegen kann  ...

Das Portal im Tor Lara war sonderbar. Als sie auf das letzte Stockwerk gerannt kam, befand sich dort nichts, nicht einmal Fenster, nur die kahlen, von Pilz bedeckten Wände. Und auf einer der Wände war plötzlich ein regelmäßiges Oval erschienen, von einem opaleszierenden Lichtschein erfüllt. Sie hatte gezögert, doch das Portal zog sie an, rief sie, bat geradezu. Und einen anderen Ausweg gab es nicht, nur dieses leuchtende Oval. Sie hatte die Augen geschlossen und war hineingegangen.

Und dann war da eine blendende Helle gewesen und ein rasender Wirbel, ein Wehen, das ihr den Atem nahm und die Rippen zusammenpresste. Sie erinnerte sich an einen Flug inmitten von Stille, Kälte und Leere, dann wieder ein Blitz und der Aufprall auf Luft. Über ihr war Bläue gewesen, unter ihr ein verwischtes Grau  ...

Das Portal hatte sie im Fluge fallen lassen, wie ein Adlerjunges einen Fisch loslässt, der ihm zu schwer ist. Als sie auf den Steinen aufgeschlagen war, hatte sie das Bewusstsein verloren. Sie wusste nicht, für wie lange.

Ich habe im Tempel von Portalen gelesen, erinnerte sie sich, während sie Sand aus den Haaren schüttelte. In den Büchern wurden Portale erwähnt, die verzerrt oder chaotisch sind, die einen wer weiß wohin tragen und wer weiß wo auswerfen. Das Portal im Möwenturm war sicherlich just so eins. Es hat mich irgendwo am Ende der Welt abgesetzt. Niemand weiß, wo. Niemand wird mich hier suchen und niemand mich finden. Wenn ich hierbleibe, sterbe ich.

Sie stand auf. Indem sie alle Kräfte mobilisierte und sich an dem Felsen festhielt, tat sie den ersten Schritt. Dann den zweiten. Und den dritten.

Diese ersten Schritte brachten ihr zu Bewusstsein, dass die Schnallen am rechten Stiefel abgerissen waren und der herabfallende Stiefelschaft das Gehen erschwerte. Sie setzte sich hin, diesmal auf zweckmäßige, nicht erzwungene Weise, und sah ihre Kleidung und Ausrüstung durch. Indem sie sich auf diese Tätigkeit konzentrierte, vergaß sie Erschöpfung und Schmerz.

Das Erste, was sie entdeckte, war der kleine Dolch. Sie hatte ihn vergessen, die Scheide war nach hinten gerutscht. Neben dem Dolch war wie üblich ein kleiner Beutel am Gürtel befestigt. Ein Geschenk von Yennefer. Er enthielt, »was eine Dame immer bei sich haben muss«. Ciri schnürte den Beutel auf. Leider sah die Standardausrüstung einer Dame die Situation nicht vor, in der sie sich jetzt befand. Der Beutel enthielt einen Schildpattkamm, eine kombinierte Nagelschere und -feile, einen verpackten, sterilisierten Tampon aus Leinengewebe und ein Jadedöschen mit Salbe für die Hände.

Ciri rieb sich sofort das sonnenverbrannte Gesicht und die Lippen mit der Salbe ein und leckte sich die Lippen gleich wieder ab. Ohne zu zögern leckte sie das ganze Döschen leer, genoss das Fett und die Spur von Feuchtigkeit. Kamille, Ambra und Campher, die zum Aromatisieren der Salbe verwendet worden waren, schmeckten widerwärtig, wirkten aber anregend.

Sie band den herabfallenden Stiefelschaft mit einem aus dem Ärmel gezogenen Riemchen fest, erhob sich, stampfte ein paarmal versuchsweise auf. Sie packte den Tampon aus und wickelte ihn ab, machte daraus ein breites Band, das die zerschundene Schläfe und die sonnenverbrannte Stirn schützte.

Sie stand auf, rückte den Gürtel zurecht, schob den Dolch zur linken Hüfte hin, zog ihn mit einer instinktiven Bewegung aus der Scheide, prüfte mit dem Daumen die Schneide. Sie war scharf. Sie hatte es gewusst.

Ich habe eine Waffe, dachte sie. Ich bin eine Hexerin. Nein, ich werde hier nicht umkommen. Was soll mir der Hunger, ich werde es aushalten, im Tempel der Melitele musste ich manchmal auch zwei Tage lang fasten. Und Wasser  ... Wasser muss ich finden. Ich werde so lange gehen, bis ich welches finde. Diese verdammte Wüste muss irgendwo ein Ende haben. Wenn es eine große Wüste wäre, wüsste ich von ihr, ich hätte sie auf den Karten bemerkt, die ich zusammen mit Jarre angeschaut habe. Jarre  ... Was er wohl jetzt macht  ...

Ich breche auf, entschied sie. Ich gehe nach Westen, ich sehe, wo die Sonne untergeht, das ist die einzige feststehende Richtung. Ich verirre mich ja nie, weiß immer, in welche Richtung ich gehen muss. Wenn es sein muss, werde ich die ganze Nacht gehen. Ich bin Hexerin. Sobald ich wieder bei Kräften bin, werde ich laufen wie in der Spur. Dann gelange ich schnell an den Rand dieser Einöde. Ich werde es aushalten  ... Ich muss es aushalten  ... Ha, Geralt war sicherlich ein paarmal in Wüsten wie dieser, wer weiß, vielleicht sogar in noch schlimmeren  ...

Ich gehe.

Nach der ersten Stunde Marsch hatte sich die Landschaft nicht verändert. Ringsum war nach wie vor nichts als Steine, rötlichgrau, scharf, die unter den Füßen wegruschten, sie zur Vorsicht zwangen. Spärliche Sträucher, trocken und stachlig, reckten ihr aus Bodenspalten verkrümmte Zweige entgegen. Am ersten Strauch, den sie erreichte, blieb Ciri stehen, in der Annahme, sie werde Blätter oder junge Zweige vorfinden, die sie aussaugen könnte. Doch der Strauch hatte nur Dornen, die die Finger verletzten. Er eignete sich nicht einmal dazu, einen Stab herauszubrechen. Der zweite und dritte Strauch waren ebenso, die folgenden ignorierte sie, ging an ihnen vorbei, ohne stehenzubleiben.

Es wurde rasch dunkler. Die Sonne sank über dem gezackten, zerklüfteten Horizont, der Himmel erstrahlte in Rot und Purpur. Mit der Dämmerung kam die Kälte. Zunächst begrüßte sie sie freudig, die Kälte beruhigte die verbrannte Haut. Bald jedoch wurde es noch kälter, und Ciri begann mit den Zähnen zu klappern. Sie beschleunigte den Schritt in der Hoffnung, davon würde ihr warm, doch die Anstrengung rief den Schmerz in der Seite und im Knie wieder wach. Sie begann zu humpeln. Zu allem Übel verschwand die Sonne vollends hinterm Horizont, und sofort herrschte Dunkelheit. Es war Neumond, und die Sterne, mit denen der Himmel übersät war, nützten nichts. Bald sah Ciri den Weg vor sich nicht mehr. Ein paarmal fiel sie hin und schürfte sich schmerzhaft Haut von den Händen. Zweimal traf sie mit dem Fuß auf eine Spalte zwischen den Steinen, und nur die bei der Hexerausbildung einstudierten Ausweichbewegungen bewahrten sie davor, sich den Fuß zu brechen oder zu verstauchen. Ihr wurde klar, dass sie haltmachen musste. Es war unmöglich, in der Dunkelheit zu marschieren.

Sie setzte sich auf einen flachen Basaltblock und empfand lähmende Verzweiflung. Sie hatte keine Ahnung, ob sie beim Gehen die Richtung gehalten hatte; sie hatte längst die Stelle verloren, wo die Sonne am Horizont versunken war, sah keine Spur des Lichtscheins mehr, an dem sie sich in den ersten Stunden nach Sonnenuntergang orientiert hatte. Ringsum war nur noch samtene, undurchdringliche Schwärze. Und schneidende Kälte. Eine Kälte, die lähmte, in die Gelenke biss, sie zwang, sich zusammenzukrümmen und den Kopf zwischen die davon schmerzenden Schultern zu ziehen. Ciri begann sich nach der Sonne zu sehnen, obwohl sie wusste, dass mit ihrem Erscheinen sofort eine Hitze auf die Felsen herabströmen würde, die nicht auszuhalten wäre. In der sie nicht weitermarschieren könnte. Wieder fühlte sie, wie ihr der Drang zu weinen die Kehle abschnürte, wie Wellen von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sie einhüllten. Doch diesmal wurde aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Zorn.

»Ich werde nicht weinen!«, schrie sie in die Finsternis. »Ich bin eine Hexerin! Ich bin  ...«

Eine Zauberin.

Ciri hob die Arme, presste die Handflächen an die Schläfen. Die Kraft ist überall. Sie ist im Wasser, in der Luft, in der Erde  ...

Sie stand rasch auf, streckte die Hände aus, ging langsam, unsicher ein paar Schritte, suchte fieberhaft eine Quelle. Sie hatte Glück. Fast sofort fühlte sie in den Ohren das vertraute Rauschen und Pulsieren, spürte die Energie, die aus einer in den Tiefen der Erde verborgenen Wasserader heraufdrang. Sie schöpfte Kraft, indem sie vorsichtig, zurückhaltend Luft holte; sie wusste, dass sie geschwächt war, und in diesem Zustand konnte ein abrupter Sauerstoffmangel im Hirn sie sofort ohnmächtig werden lassen, die ganze Anstrengung zunichte machen. Die Energie füllte sie allmählich aus, brachte die vertraute, momentane Euphorie. Die Lunge begann stärker und schneller zu arbeiten. Ciri zügelte die beschleunigte Atmung – eine zu intensive Sauerstoffzufuhr konnte ebenfalls fatale Folgen haben.

Es gelang.

Zuerst die Erschöpfung, dachte sie, zuerst dieser lähmende Schmerz im Rücken und in den Schenkeln. Dann die Kälte. Ich muss die Körpertemperatur erhöhen  ...

Schrittweise rief sie sich Gesten und Sprüche in Erinnerung. Manche führte und sprach sie zu hastig aus – plötzlich überfielen sie Spasmen und Zittern, ein heftiger Krampf und Schwindelgefühl ließen ihr die Knie weich werden. Sie setzte sich auf die Basaltplatte, beruhigte die zitternden Hände, gewann die Beherrschung über den keuchenden, arrhythmischen Atem zurück.

Sie wiederholte die Formeln, zwang sich zu Ruhe und Präzision, zur Konzentration und vollständigen Sammlung des Willens. Und diesmal trat die Wirkung auf der Stelle ein. Sie verteilte die sie einhüllende Wärme auf Schenkel und Gurgel. Sie stand auf, fühlte, wie die Müdigkeit verschwand und die schmerzenden Muskeln sich entspannten.

»Ich bin eine Zauberin!«, rief sie triumphierend und hob die Hände hoch empor. »Komm, unsterbliches Licht! Ich rufe dich! Aen’drean va, aveigh Aine!«

Eine nicht besonders große warme Lichtkugel stieg von ihren Händen wie ein Falter auf, warf unstete Schattenmosaiken auf die Steine. Mit einer langsamen Handbewegung stabilisierte sie die Kugel, platzierte sie so, dass sie vor ihr hing. Das war kein guter Einfall – das Licht blendete sie. Sie versuchte, die Kugel hinter ihrem Rücken unterzubringen, doch auch das ergab eine miserable Wirkung – ihr eigener Schatten legte sich auf den Weg, beeinträchtigte die Sicht. Schön langsam schob Ciri die leuchtende Sphäre zur Seite, ließ sie ein Stück über ihrer rechten Schulter schweben. Obwohl die Kugel offensichtlich einem echten magischen Aine nicht das Wasser reichen konnte, war das Mädchen unheimlich stolz auf seine Leistung.

»Ha!«, brüstete sie sich. »Schade, dass Yennefer das nicht sieht!«

Sie marschierte zügig und energisch weiter, schritt rasch und sicher aus, wählte ihren Weg im schwankenden und unsteten Helldunkel, das die Kugel warf. Beim Gehen versuchte sie sich an andere Zaubersprüche zu erinnern, doch keiner schien ihr auf die Situation zu passen, zudem waren manche sehr kräftezehrend, sie hatte ein wenig Angst, wollte sie nicht ohne Not gebrauchen. Leider kannte sie keinen, der imstande gewesen wäre, Wasser oder Nahrung zu erschaffen. Sie wusste, dass es solche gab, verstand aber keinen davon anzuwenden.

Im Licht der magischen Kugel kam plötzlich Leben in die bislang tote Wüste. Ungeschickt flohen unter Ciris Füßen glänzende Käfer und pelzige Spinnen davon. Ein kleiner rotgelber Skorpion, der seinen segmentierten Schwanz nachzog, lief ihr hurtig über den Weg, tauchte in einen Spalt zwischen Steinen ab. Eine langschwänzige grüne Eidechse huschte in die Dunkelheit, raschelte über das Geröll. Es liefen Nagetiere vor ihr davon, die großen Mäusen ähnelten und auf den Hinterbeinen geschickt und hoch sprangen. Mehrmals erblickte sie im Dunkeln aufblitzende Augen, und einmal hörte sie ein Zischen, das von einem Steinhaufen herkam und ihr das Blut in den Adern stocken ließ. Wenn sie sich anfangs mit der Absicht getragen hatte, etwas Essbares zu erjagen, nahm ihr das Zischen jegliche Lust, zwischen den Steinen herumzustöbern. Sie begann genauer darauf zu achten, wo sie hintrat, und vor den Augen standen ihr die Zeichnungen aus den Büchern, die sie in Kaer Morhen betrachtet hatte. Der Gigaskorpion. Die Scarlettia. Die Greule. Der Vicht. Die Lamia. Die Krabbspinne. Ungeheuer, die in Wüsten lebten. Beim Gehen hielt sie ängstlich und wachsam Ausschau und spitzte die Ohren, umklammerte den Griff des Dolches.

Nach ein paar Stunden wurde die leuchtende Kugel trüber, der Kreis des von ihr geworfenen Lichtes nahm ab, wurde dunkler, verschwamm. Ciri konzentrierte sich mit Mühe und sagte abermals den Spruch. Die Kugel erzitterte für ein paar Sekunden in hellerem Licht, wurde aber sogleich rot und wieder trübe. Die Anstrengung ließ sie wanken, sie taumelte, vor den Augen tanzten ihr schwarze und rote Flecke. Sie setzte sich schwerfällig hin, dass der Splitt knirschte.

Die Kugel erlosch vollends. Ciri versuchte keine Zaubersprüche mehr, die Erschöpfung, die Leere und der Mangel an Energie, die sie in sich spürte, nahmen ihr von vornherein jede Erfolgsaussicht.

Vor ihr, weit am Horizont, erhob sich ein undeutlicher Lichtschein. Ich habe mich verirrt, stellte sie entsetzt fest. Ich habe alles verdreht  ... Erst bin ich nach Westen gegangen, jetzt aber geht die Sonne direkt vor mir auf, und das heißt  ...

Sie fühlte, wie Erschöpfung und eine Schläfrigkeit sie übermannten, gegen die nicht einmal die Kälte ankam, die sie zittern ließ. Ich werde nicht einschlafen, beschloss sie. Ich darf nicht einschlafen ... Ich darf nicht  ...

Sie erwachte von durchdringender Kälte und zunehmender Helligkeit, und der in den Eingeweiden wühlende Schmerz, das trockene und aufdringliche Brennen in der Kehle brachten sie vollends zu sich. Sie versuchte aufzustehen. Sie konnte es nicht. Die schmerzenden und steif gewordenen Glieder versagten den Dienst. Als sie mit den Händen um sich tastete, fühlte sie Feuchtigkeit unter den Fingern.

»Wasser  ...«, krächzte sie. »Wasser!«

Am ganzen Körper zitternd kam sie auf alle viere, presste die Lippen gegen die Basaltplatten, sammelte fieberhaft die Tröpfchen, die sich auf der glatten Oberfläche niedergeschlagen hatten, saugte die Feuchtigkeit aus den Vertiefungen in der unebenen Oberfläche des Felsbrockens. In einer hatte sich fast eine halbe Handvoll Tau angesammelt – sie leckte sie zusammen mit Sand und Steinstaub auf, wagte es nicht, auszuspucken. Sie schaute sich um.

Vorsichtig, um nicht das kleinste bisschen zu verlieren, sammelte sie mit der Zunge die glänzenden Tautropfen, die an den Dornen eines zwergwüchsigen Strauches hingen, der es auf rätselhafte Weise geschafft hatte, zwischen den Steinen hervorzuwachsen. Auf dem Erdboden lag ihr Dolch. Sie erinnerte sich nicht, wann sie ihn aus der Scheide genommen hatte. Die Klinge war trübe von einer dünnen Schicht Tau. Sorgfältig und gründlich leckte sie das kalte Metall ab.

Sie überwand den Schmerz, der den Körper steif machte, und kroch auf allen vieren vorwärts, folgte der Feuchtigkeit auf anderen Steinen. Aber die goldene Sonnenscheibe war schon über den steinigen Horizont gestiegen, goss blendende goldene Helligkeit über die Wüste, trocknete blitzschnell die Felsbrocken. Ciri empfing freudig die zunehmende Wärme, doch ihr war klar, dass sie sich schon bald, unbarmherzig mit Hitze überflutet, nach der Kälte der Nacht sehnen würde.

Sie wandte der glänzenden Kugel den Rücken zu. Dort, wo sie leuchtete, war Osten. Sie aber musste nach Westen. Sie musste.

Die Hitze nahm zu, wurde rasch stärker, bald schon unerträglich. Gegen Mittag litt sie so sehr darunter, dass sie wohl oder übel die Marschrichtung ändern musste, um Schatten zu suchen. Endlich fand sie Schutz: einen großen, pilzförmigen Felsen. Sie kroch darunter.

Und da bemerkte sie einen Gegenstand, der zwischen den Steinen lag. Es war das restlos ausgeleckte Jadedöschen, das Salbe für die Hände enthalten hatte.

Sie fand keine Kraft zum Weinen.

 

Hunger und Durst überwanden Erschöpfung und Resignation. Wankend machte sie sich wieder auf den Weg. Die Sonne brannte.

Fern am Horizont, hinter dem wabernden Dunstschirm, machte sie etwas aus, was nur eine Bergkette sein konnte. Eine sehr ferne Bergkette.

Als es Nacht wurde, schöpfte sie mit gewaltiger Mühe Kraft, doch erst nach mehreren Versuchen gelang es ihr, eine magische Kugel zu erschaffen, und die Anstrengung hatte sie so ausgelaugt, dass sie nicht weitergehen konnte. Sie hatte ihre ganze Energie verloren; die Zaubersprüche zur Erwärmung und Entspannung gelangen ihr trotz vielen Versuchen nicht. Das Zaubern von Licht stärkte ihren Mut und ihre Zuversicht, doch die schneidende Kälte zermürbte sie, ließ sie bis zum Tagesanbruch zittern. So erwartete sie ungeduldig den Sonnenaufgang. Sie nahm den Dolch aus der Scheide, legte ihn vorsorglich auf einen Stein, damit er sich mit Tau bedecke. Sie war schrecklich erschöpft, doch Hunger und Durst vertrieben den Schlaf. Sie hielt bis zum Morgengrauen aus. Es war noch dunkel, als sie schon gierig den Tau von der Klinge zu lecken begann. Als es hell wurde, ließ sie sich sofort auf alle viere sinken, um in Vertiefungen und Spalten nach Feuchtigkeit zu suchen.

Sie hörte ein Zischen.

Eine große bunte Eidechse, die auf einem Felsblock in der Nähe saß, riss das zahnlose Maul auf, stellte einen imponierenden Rückenkamm auf, plusterte sich auf und peitschte mit dem Schwanz über den Stein. Vor der Echse war eine ganz kleine, mit Wasser gefüllte Spalte zu sehen.

Zuerst wich Ciri erschrocken zurück, doch sogleich erfassten sie Verzweiflung und wilde Wut. Sie tastete mit zitternden Händen umher und bekam einen kantigen Steinbrocken zu fassen.

»Das ist mein Wasser!«, heulte sie. »Meins!«

Sie warf den Stein. Traf nicht. Die Echse sprang auf Pfoten mit langen Krallen hoch, verschwand geschickt in dem Felslabyrinth. Ciri kniete vor dem Stein nieder, saugte den Rest Wasser aus der Spalte. Und da sah sie es.

Hinter einem Stein in einer runden Nische lagen sieben Eier, die teilweise aus dem roten Sand hervorschauten. Das Mädchen zögerte keinen Augenblick. Kniend fiel sie über das Gelege her, packte eins der Eier und schlug die Zähne hinein. Die ledrige Schale sprang auf und erschlaffte in ihrer Hand, der klebrige Inhalt floß zum Ärmel hin. Ciri saugte das Ei aus, leckte die Hand ab. Das Schlucken bereitete ihr Mühe, und sie schmeckte überhaupt nichts.

Sie saugte alle Eier aus und blieb auf allen vieren, klebrig, schmutzig, sandbedeckt, mit von den Lippen herabhängender klebriger Masse, wühlte fieberhaft im Sande und stieß unmenschliche, schluchzende Laute aus. Sie erstarrte.

(Sitz gerade, Fürstentochter! Stütz nicht die Ellenbogen auf den Tisch. Pass auf, wenn du nach der Schüssel greifst, du machst dir die Spitze an den Manschetten schmutzig! Wisch dir den Mund mit der Serviette ab und hör auf zu schmatzen! Bei den Göttern, hat denn niemand diesem Kind beigebracht, wie man sich bei Tische benimmt? Cirilla!)

Ciri brach in Weinen aus, den Kopf auf die Knie gestützt.

 

Sie hielt den Marsch bis zum Mittag durch, dann überwältigte sie die Hitze und zwang sie, eine Pause zu machen. Lange döste sie, im Schatten unter einem Felsvorsprung verborgen. Der Schatten spendete keine Kühle, war aber besser als die sengende Sonne. Durst und Hunger ließen keinen Schlaf zu.

Die ferne Bergkette schien ihr in den Sonnenstrahlen zu funkeln und zu blitzen. Auf den Gipfeln dieser Berge, dachte sie, liegt vielleicht Schnee, vielleicht gibt es dort Eis, es kann dort Bäche geben. Ich muss dort hingelangen, muss rasch dort hingelangen.

Sie ging fast die ganze Nacht hindurch. Sie hatte beschlossen, sich nach den Sternen zu richten. Der Himmel war voller Sterne. Ciri bedauerte, dass sie im Unterricht nicht aufgepasst und keine Lust gehabt hatte, die Himmelsatlanten zu studieren, die es in der Tempelbibliothek gab. Sie kannte natürlich die wichtigsten Sternbilder – die Sieben Ziegen, den Krug, die Sichel, den Drachen und die Winterjungfrau, doch gerade die standen hoch am Firmament und eigneten sich schlecht, die Marschrichtung zu bestimmen. Endlich gelang es ihr, in dem funkelnden Gewimmel einen ziemlich hellen Stern auszuwählen, der, wie sie glaubte, die richtige Richtung anzeigte. Sie wusste nicht, was das für ein Stern war, also gab sie ihm selbst einen Namen. Sie nannte ihn das Auge.

Sie ging. Die Bergkette, auf die sie zuging, kam kein bisschen näher – sie war immer noch so weit entfernt wie am Tag zuvor. Doch sie wies den Weg.

Beim Gehen schaute sie sich wachsam um. Sie fand noch ein Eidechsengelege, es lagen vier Eier darin. Sie entdeckte ein grünes Pflänzchen, nicht länger als der kleine Finger, das es wie durch ein Wunder geschafft hatte, zwischen den Felsbrocken hervorzuwachsen. Sie fing einen großen braunen Käfer. Und eine dünnbeinige Spinne.

Sie aß alles.

 

Gegen Mittag erbrach sie, was sie gegessen hatte, und verlor danach das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, suchte sie sich ein Fleckchen Schatten und lag zusammengekrümmt da, die Hände gegen den schmerzenden Bauch gepresst.

Bei Sonnenuntergang setzte sie den Marsch fort. Steif wie ein Automat. Mehrmals fiel sie hin, stand wieder auf, ging weiter.

Sie ging. Sie musste gehen.

 

Abend. Rast. Nacht. Das Auge weist den Weg. Marschieren bis zur völligen Erschöpfung, die sich lange vor Sonnenaufgang einstellte. Rast. Schlechter Schlaf. Hunger. Kälte. Mangel an magischer Energie, ein Fiasko beim Zaubern von Licht und Wärme. Durst, der nur noch stärker wurde, als sie am Morgen den Tau von der Dolchklinge und den Steinen geleckt hatte.

Als die Sonne aufging, schlief sie in der zunehmenden Wärme ein. Sie wurde von Gluthitze geweckt. Sie stand auf, um weiterzugehen.

Nach knapp einer Stunde Marsch wurde sie ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kam, stand die Sonne im Zenit. Sengende Hitze. Sie hatte keine Kraft, Schatten zu suchen. Sie hatte keine Kraft aufzustehen. Doch sie stand auf.

Sie ging. Sie ließ sich nicht unterkriegen. Fast den ganzen folgenden Tag lang. Und einen Teil der Nacht.

 

Die größte Hitze verschlief sie abermals, unter einem schräg im Sande steckenden Felsen zusammengerollt. Der Schlaf war unruhig und qualvoll – sie träumte von Wasser, Wasser, das man trinken kann. Große, weiße, von Sprühnebel und einem Regenbogen umringte Wasserfälle. Singende Bäche. Kleine Waldquellen im Schatten von Farbkraut, das im Wasser steht. Bemooste Brunnen und überlaufende Eimer  ... Die Tropfen, die an einem schmelzenden Eiszapfen herabrinnen  ... Wasser. Kaltes, belebendes Wasser, das die Zähne schmerzen lässt, aber so wunderbar, unnachahmlich schmeckt  ...

Sie erwachte, rappelte sich auf und begann in die Richtung zu gehen, aus der sie gekommen war. Sie kehrte um, stolpernd und fallend. Sie musste umkehren! Beim Gehen war sie an Wasser vorbeigekommen! War, ohne haltzumachen, an einem zwischen den Steinen plätschernden Bach vorbeigegangen! Wie konnte sie so unvernünftig sein!

Sie kam zu sich.

Die Hitze hatte nachgelassen, es wurde bald Abend. Die Sonne zeigte den Weg nach Westen. Zu den Bergen. Die Sonne durfte nicht in ihrem Rücken stehen, hatte kein Recht dazu. Ciri verscheuchte das Trugbild, hielt die Tränen zurück. Sie drehte sich um und marschierte weiter.

 

Sie ging die ganze Nacht hindurch, aber sehr langsam. Sie kam nicht weit. Sie schlief beim Gehen ein und träumte von Wasser. Die aufgehende Sonne fand sie auf einem Steinblock sitzend, den Blick auf die Dolchklinge gerichtet und auf den entblößten Unterarm.

Blut ist doch flüssig. Man kann es trinken.

Sie verscheuchte die Trugbilder und Albgesichter. Sie leckte den taubedeckten Dolch ab und setzte den Marsch fort.

 

Sie wurde ohnmächtig. Sie kam zu sich, von der Sonne und den aufgeheizten Steinen gebrannt. Vor sich, hinter dem Vorhang aus zitternder Luft, sah sie die zerklüftete, gezackte Bergkette.

Sie war näher. Viel näher.

Doch Ciri hatte keine Kraft mehr. Sie setzte sich hin. Der Dolch in ihrer Hand warf die Sonne zurück, flammte. Er war scharf. Sie wusste das.

Wozu quälst du dich, fragte der Dolch mit der ernsten, ruhigen Stimme der pedantischen Zauberin, die Tissaia de Vries hieß. Warum verurteilst du dich zum Leiden? Mach endlich Schluss damit!

Nein. Ich lasse mich nicht unterkriegen.

Du hältst das nicht aus. Weißt du, wie man vor Durst stirbt? Jeden Augenblick wirst du wahnsinnig werden, und dann ist es zu spät. Dann wirst du nicht mehr imstande sein, damit Schluss zu machen.

Nein. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich halte durch.

Sie steckte den Dolch in die Scheide. Stand auf, wankte, fiel. Stand auf, wankte, marschierte weiter.

Über sich, hoch am gelben Himmel, erblickte sie einen Geier.

 

Als sie wieder zu sich kam, erinnerte sie sich nicht, wann sie gefallen war. Sie wusste nicht, wie lange sie gelegen hatte. Sie schaute nach oben. Dem über ihr kreisenden Geier hatten sich zwei weitere zugesellt. Sie hatte nicht genug Kraft zum Aufstehen.

Ihr war klar, dass dies das Ende war. Sie nahm es ruhig hin. Sogar mit Erleichterung.

 

Etwas berührte sie.

Etwas drückte ihr leicht und vorsichtig gegen den Arm. Nach der langen Zeit der Einsamkeit, da nichts als tote und reglose Steine sie umgeben hatten, bewirkte die Berührung, dass sie trotz der Erschöpfung heftig auffuhr – oder es zumindest versuchte. Das, was sie berührt hatte, schnaubte und sprang weg, wobei es laut aufstampfte.

Ciri setzte sich mit Mühe auf, rieb sich mit den Daumenknöcheln die verklebten Augenwinkel.

Ich bin verrückt geworden, dachte sie.

Ein paar Schritte vor ihr stand ein Pferd. Sie blinzelte. Es war kein Trugbild. Es war wirklich ein Pferd. Ein Pferdchen. Ein junges Pferd. Fast ein Fohlen.

Sie kam zu sich. Sie leckte sich die aufgeplatzten Lippen und hustete unwillkürlich. Das Pferdchen sprang hoch und lief davon, dass die Hufe im Kies schurrten. Es bewegte sich sehr sonderbar, und auch die Farbe war ungewöhnlich – falb oder grau. Aber vielleicht schien es auch nur so, weil das Pferd vor der Sonne stand.

Das Pferdchen wieherte und kam ein paar Schritte näher. Jetzt sah sie es besser. Gut genug, um außer der tatsächlich untypischen Farbe sofort den seltsamen unregelmäßigen Körperbau zu bemerken – kleiner Kopf, ungewöhnlich schlanker Hals, schmale Fesseln, buschiger Schwanz. Das Pferdchen blieb stehen und betrachtete sie, den Kopf zur Seite gedreht. Ciri seufzte lautlos auf.

Aus der gewölbten Stirn des Pferdchens ragte ein Horn hervor, mindestens zwei Spannen lang.

Eine unmögliche Unmöglichkeit, dachte Ciri, während sie weiter zu sich kam und ihre Gedanken sammelte. Es gibt doch auf der Welt keine Einhörner mehr, sie sind doch ausgestorben. Nicht einmal in dem Hexerbuch in Kaer Morhen hat es ein Einhorn gegeben! Nur im Buch der Mythen im Tempel habe ich von ihnen gelesen  ... Ach ja, und im Physiologus, den ich in der Bank von Herrn Giancardi durchgeblättert habe, war eine Illustration, die ein Einhorn darstellte  ... Aber das Einhorn von der Zeichnung erinnerte eher an eine Ziege als an ein Pferd, es hatte struppige Fesseln und einen Ziegenbart, und sein Horn war an die zwei Ellen lang  ...

Sie wunderte sich, dass sie sich so gut an alles erinnerte, an Ereignisse, die eine Ewigkeit zurücklagen. Plötzlich drehte es sich ihr im Kopfe, die Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen. Sie stöhnte und krümmte sich. Das Einhorn schnaubte und trat einen Schritt näher, blieb stehen, hob den Kopf hoch empor. Ciri fiel plötzlich ein, was die Bücher über Einhörner sagten.

»Du kannst ruhig näher kommen  ...«, krächzte sie und versuchte sich aufzusetzen. »Du kannst, weil ich  ...«

Das Einhorn schnaubte, sprang weg und galoppierte davon, schwenkte den Schweif. Doch nach einem Moment blieb es stehen, schüttelte den Kopf, scharrte mit dem Huf und wieherte laut.

»Das ist nicht wahr!«, stöhnte sie verzweifelt. »Jarre hat mich nur einmal geküsst, und das zählt nicht! Komm zurück!«

Vor Anstrengung wurde ihr schwarz vor Augen, sie fiel kraftlos auf die Steine. Als es ihr endlich gelang, den Kopf zu heben, war das Einhorn wieder nahe. Es musterte sie forschend, neigte den Kopf und schnaubte leise.

»Hab keine Angst vor mir  ...«, flüsterte sie. »Das brauchst du nicht, denn  ... denn ich sterbe ja  ...«

Das Einhorn wieherte und schüttelte den Kopf. Ciri wurde ohnmächtig.

 

Als sie zu sich kam, war sie allein. Schmerzerfüllt, steif geworden, durstig, hungrig und mutterseelenallein. Das Einhorn war ein Trugbild gewesen, eine Täuschung, ein Traum. Und es war verschwunden, wie ein Traum verschwindet. Sie verstand das, akzeptierte es, und dennoch empfand sie Trauer und Verzweiflung, als habe das Geschöpf tatsächlich existiert, sei bei ihr gewesen und habe sie verlassen. Wie alle sie verlassen hatten.

Sie wollte aufstehen, vermochte es aber nicht. Sie stützte das Gesicht auf die Steine. Langsam griff sie an die Seite, tastete nach dem Griff des Dolches. Blut ist flüssig. Ich muss trinken.

Sie hörte Hufschlag, ein Wiehern.

»Du bist zurückgekommen  ...«, flüsterte sie und hob den Kopf. »Bist du wirklich zurückgekommen?«

Das Einhorn schnaubte laut. Sie bemerkte seine Hufe, die schon nahe bei ihr waren. Die Hufe waren nass. Sie troffen geradezu vor Wasser.

 

Die Hoffnung verlieh ihr Kraft, erfüllte sie mit Energie. Das Einhorn führte, Ciri folgte ihm, noch immer unsicher, ob das nicht womöglich ein Traum sei. Als die Erschöpfung sie schließlich doch zu Boden warf, ging sie auf allen vieren weiter. Dann kroch sie.

Das Einhorn führte sie zwischen Felsen zu einer flachen Senke, deren Boden mit Sand bedeckt war. Ciri kroch mit letzter Kraft. Doch sie kroch. Denn der Sand war nass.

Das Einhorn blieb vor einer im Sande sichtbaren Vertiefung stehen, wieherte, scharrte kräftig mit dem Huf, einmal, zweimal, dreimal. Sie verstand. Sie kroch näher heran, half ihm. Sie wühlte und brach sich dabei die Fingernägel ab, grub, schob beiseite. Sie schluchzte wohl dabei, doch dessen war sie sich nicht sicher. Als am Grunde der Vertiefung eine morastige Flüssigkeit erschien, fiel sie sogleich mit dem Mund darüber her, schluckte das trübe Wasser mitsamt dem Sand, so gierig, dass das Wasser verschwand. Ciri beherrschte sich mit riesiger Anstrengung, grub noch tiefer, benutzte dazu den Dolch, dann setzte sie sich hin und wartete. Sie knirschte mit dem Sand auf den Zähnen und zitterte vor Ungeduld, doch sie wartete, bis die Vertiefung sich wieder mit Wasser füllte. Und dann trank sie. Lange.

Beim dritten Mal ließ sie das Wasser sich etwas setzen, trank an die vier Schlucke ohne Sand, nur mit dem Schlamm. Und da fiel ihr das Einhorn ein.

»Du hast sicherlich auch Durst, Pferdchen«, sagte sie. »Aber Morast wirst du ja nicht trinken. Kein Pferdchen trinkt Morast.«

Das Einhorn wieherte.

Ciri vertiefte die Grube, befestigte ihren Rand mit Steinen.

»Warte ein wenig, Pferdchen. Lass es sich ein bisschen setzen  ...«

Das »Pferdchen« schnaubte, stampfte, wandte den Kopf ab.

»Schmoll nicht. Trink.«

Das Einhorn senkte das Maul vorsichtig zum Wasser.

»Trink, Pferdchen. Das ist kein Traum. Das ist richtiges Wasser.«

 

Zunächst trödelte Ciri, wollte nicht von der kleinen Quelle fortgehen. Sie hatte sich nämlich eine neue Methode zum Trinken ausgedacht, die darin bestand, das in der Vertiefung nass gemachte Taschentuch in den Mund auszudrücken, womit sie Sand und Schlamm weitgehend vermeiden konnte. Doch das Einhorn drängte, wieherte, stampfte, lief weg, kam wieder zurück. Es forderte zum Marschieren auf und zeigte den Weg. Nach heftigem Zögern gehorchte Ciri – das Tier hatte recht, sie musste gehen, zu den Bergen hingehen, aus der Wüste heraus. Sie folgte dem Einhorn, wobei sie sich umschaute und sich die Lage der Quelle genau einprägte. Sie wollte sich nicht verirren, falls sie umkehren musste.

Sie gingen den ganzen Tag lang zusammen. Das Einhorn, das sie »Pferdchen« genannt hatte, führte. Es war ein seltsames Pferdchen. Es aß Unkraut, das nicht nur kein Pferd angerührt hätte, sondern nicht einmal eine ausgehungerte Ziege. Und als es zwischen den Steinen eine Kolonne großer Ameisen entdeckte, begann es auch die zu essen. Ciri schaute zunächst verwundert zu, dann schloss sie sich dem Festmahl an. Sie hatte Hunger.

Die Ameisen waren schrecklich sauer, doch vielleicht war gerade das der Grund, dass sie kein Brechreiz überkam. Außerdem waren es viele Ameisen, und sie konnte ein wenig die steif gewordenen Kiefer gebrauchen. Das Einhorn aß die Insekten im Ganzen, Ciri begnügte sich mit Hinterleibern und spuckte die harten Bruchstüche der Chitinpanzer aus.

Sie gingen weiter. Das Einhorn entdeckte ein paar Büschel vergilbtes Federgras und aß sie genüsslich. Diesmal schloss sich Ciri nicht an. Doch als Pferdchen im Sande Eidechseneier fand, aß sie sie, und das Einhorn schaute zu. Sie gingen weiter. Ciri entdeckte ein Büschel Federgras, wies Pferdchen darauf hin. Etwas später lenkte Pferdchen ihre Aufmerksamkeit auf einen riesigen schwarzen Skorpion mit einem Schwanz, der wohl anderthalb Spannen lang war. Ciri zertrat das ekelhafte Vieh. Als es sah, dass sie sich nicht anschickte, den Skorpion zu essen, aß das Einhorn ihn selbst und wies sie kurz darauf auf das nächste Echsengelege hin.

Wie sich erwies, war das eine durchaus zuträgliche Zusammenarbeit.

 

Sie gingen weiter.

Die Bergkette kam immer näher.

Als die tiefe Nacht hereinbrach, machte das Einhorn halt. Es schlief im Stehen. Ciri, die sich mit Pferden auskannte, versuchte es zunächst zu bewegen, sich hinzulegen – sie konnte versuchen, auf ihm zu schlafen und von seiner Wärme zu profitieren. Daraus wurde nichts. Pferdchen schmollte und ging weg, blieb immer auf Abstand. Überhaupt wollte sich das Einhorn nicht auf klassische Weise verhalten, wie in den gelehrten Büchern beschrieben – es dachte offensichtlich nicht daran, ihr den Kopf auf den Schoß zu legen. Ciri war voller Zweifel. Sie schloss nicht aus, dass die Bücher in Bezug auf Einhörner und Jungfrauen logen, doch es gab auch eine andere Möglichkeit. Das Einhorn war unverkennbar ein Einhornfohlen, und als Jungtier hatte es vielleicht keinen blassen Schimmer von Jungfrauen. Die Möglichkeit, dass Pferdchen imstande wäre, die paar seltsamen Träume, die sie einst hatte, wahr- und ernstzunehmen, verwarf sie. Wer nahm denn Träume ernst?

 

Es enttäuschte sie ein wenig. Sie wanderten zwei Tage und zwei Nächte, und das Einhorn fand kein Wasser, obwohl es welches suchte. Ein paarmal blieb es stehen, wandte den Kopf mit dem Horn hin und her, dann trabte es, drang in Felsspalten ein, scharrte mit den Hufen im Sand. Es fand Ameisen, es fand Ameiseneier und Larven. Es fand ein Echsengelege. Es fand eine bunte Schlange, die es geschickt tottrat. Doch Wasser fand es nicht.

Ciri bemerkte, dass das Einhorn Bögen schlug, keine gerade Marschrichtung einhielt. Ihr kam der begründete Verdacht, das Geschöpf lebe keineswegs in der Wüste. Sondern habe sich einfach darin verirrt.

Wie sie selbst.

 

Die Ameisen, die sie immer häufiger fanden, enthielten eine saure Flüssigkeit, doch Ciri dachte immer ernsthafter daran, zu der Quelle zurückzukehren. Wenn sie noch weiter gingen und kein Wasser fänden, würden die Kräfte zur Umkehr vielleicht nicht ausreichen. Denn die Hitze war schrecklich, der Marsch zehrte an den Kräften.

Sie wollte schon beginnen, das dem Einhorn verständlich zu machen, als es plötzlich anhaltend wieherte, mit dem Schwanz wedelte und im Galopp hinab zwischen gezackte Felsen lief. Ciri folgte ihm und aß unterwegs Hinterleiber von Ameisen.

Einen großen Bereich zwischen den Felsen nahm eine breite Sandpfanne ein, und in ihrer Mitte war eine deutliche Vertiefung zu sehen.

»Ha!«, freute sich Ciri. »Bist ein kluges Pferdchen, Pferdchen. Du hast wieder eine Quelle gefunden. Dort unten muss es Wasser geben!«

Das Einhorn schnaubte anhaltend und umkreiste die Vertiefung in leichtem Trab. Ciri ging näher heran. Die Vertiefung war groß, sie maß mindestens zwanzig Fuß im Durchmesser. Sie war exakt und gleichmäßig kreisförmig und erinnerte an einen Trichter, so regelmäßig, als habe jemand ein riesiges Ei im Sande abgedrückt. Plötzlich begriff Ciri, dass so eine regelmäßige Form nicht von selbst entstehen konnte. Doch es war schon zu spät.

Am Grunde des Trichters bewegte sich etwas, und Ciri schlug ein heftiger Hagel von Sand und Kies ins Gesicht. Sie sprang zurück, fiel hin und stellte fest, dass sie abwärts rutschte. Die heraufschießenden Kiesfontänen trafen nicht nur sie – sie trafen den Rand des Trichters, und der Rand sackte in Wellen ab und zog sie mit hinab. Sie schrie auf, ließ wie ein Schwimmer die Arme kreisen und versuchte vergebens, einen Halt für die Füße zu finden. Sofort wurde ihr klar, dass heftige Bewegungen alles nur noch schlimmer machten, den Sand stärker rutschen ließen. Sie drehte sich auf den Rücken, stemmte die Fersen fest in den Boden und breitete die Arme aus. Der Sand am Grunde bewegte sich und wogte, sie sah die daraus hervorkommenden braunen, hakenbewehrten Scheren, eine gute halbe Elle lang. Abermals schrie sie, diesmal viel lauter.

Der Kieshagel hörte plötzlich auf, auf sie einzuschlagen, und traf auf den gegenüberliegenden Rand des Trichters. Das Einhorn bäumte sich auf, der Rand brach unter ihm ab. Es versuchte, sich aus dem Treibsand zu befreien, doch vergebens – es versank immer tiefer darin und rutschte immer schneller zum Grunde hin. Die schrecklichen Scheren begannen heftig auf- und zuzugehen. Das Einhorn wieherte verzweifelt, warf sich hin und her, schlug ohnmächtig mit den Vorderhufen auf den hinabgleitenden Sand ein. Seine Hinterbeine steckten fest. Als es bis zum Grunde des Trichters gerutscht war, packten es die grausamen Zangen des im Sande verborgenen Geschöpfs.

Als sie den wilden Schmerzensschrei hörte, brüllte Ciri wütend auf und stürzte sich hinab, wobei sie den Dolch aus der Scheide riss. Sobald sie unten war, erkannte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Das Ungeheuer lag tief verborgen, die Dolchstiche erreichten es nicht durch die Sandschicht. Zu allem Übel war das Einhorn, von den monströsen Scheren gepackt und in die sandige Falle herabgezogen, vor Schmerz wahnsinnig, es schrie, stieß blindlings mit den Vorderhufen zu und drohte Ciri die Knochen zu brechen.

Die Tänze und Kunststücke der Hexer nützten hier nichts. Doch es gab einen ziemlich einfachen Zauberspruch. Ciri rief die Kraft herbei und schlug mit Telekinese zu.

Eine Sandwolke schoss empor und enthüllte das verborgene Ungeheuer, das ein Bein des Einhorns umklammert hielt. Ciri schrie entsetzt auf. Etwas derart Hässliches hatte sie noch nie im Leben gesehen, auf keiner Illustration, in keinem Hexerbuch. Etwas derart Abscheuliches hatte sie sich nicht einmal vorzustellen vermocht.

Das Ungeheuer war graubraun, länglich und angeschwollen wie eine mit Blut vollgesogene Wanze; die schmalen Segmente des fassförmigen Körpers bedeckten spärliche Stoppeln. Beine schien es überhaupt nicht zu haben, dafür waren die Scheren fast so lang wie es selbst.

Das seiner Sandbedeckung beraubte Geschöpf ließ sogleich das Einhorn los und begann, sich mit schnellen, heftigen Zuckungen des aufgedunsenen Körpers einzugraben. Das gelang ihm ausnehmend gut, und das aus dem Trichter herausstrebende Einhorn half ihm auch noch, indem es Sandlawinen herabstieß. Ciri wurde von Wut und Rachedurst erfasst. Sie stürzte sich auf das unter dem Sand kaum noch sichtbare Scheusal und stieß den Dolch in den gewölbten Rücken. Sie griff von hinten an, hielt sich wohlweislich von den auf- und zugehenden Scheren fern, mit denen das Ungeheuer, wie sich zeigte, ziemlich weit nach hinten reichen konnte. Sie stieß abermals zu, und das Geschöpf grub sich mit unheimlicher Geschwindigkeit ein. Doch es tat es nicht, um zu fliehen. Sondern um anzugreifen. Um sich vollends zu verbergen, genügten ihm zwei weitere Zuckungen. Dies getan, stieß es mit Macht eine Welle Kies los, der Ciri fast bis zu den Hüften begrub. Sie riss sich los und warf sich nach hinten, doch sie konnte nirgendwohin entkommen – es war noch immer ein Trichter in dem lockeren Sand, jede Bewegung zog sie nach unten. Der Sand am Grunde aber wallte in einer auf sie zulaufenden Woge auf, aus der Woge streckten sich auf- und zuklappende, mit scharfen Haken bewehrte Scheren heraus.

Es rettete sie Pferdchen. Zum Boden des Trichters gerutscht, schlug das Einhorn mit Macht auf die Wölbung im Sand ein, die das darunter verborgene Ungeheuer verriet. Von den wilden Hufschlägen wurde der graue Rücken freigelegt. Das Einhorn senkte den Kopf und nagelte das Scheusal mit dem Horn fest, zielsicher, an der Stelle, wo der scherenbewehrte Kopf in den aufgedunsenen Körper überging. Als sie sah, wie die Zangen des zu Boden gedrückten Monsters ohnmächtig im Sande wühlten, sprang Ciri hinzu und hieb den Dolch mit ganzer Kraft in den zuckenden Körper. Sie riss die Klinge heraus, stieß wieder zu. Und wieder. Das Einhorn riss sein Horn heraus und ließ die Vorderhufe mit Wucht auf den fassförmigen Körper prallen.

Das Monster versuchte nicht länger, sich einzugraben. Es bewegte sich überhaupt nicht mehr. Der Sand ringsum wurde von einer grünlichen Flüssigkeit durchnetzt.

Nicht ohne Mühe kletterten sie aus dem Trichter heraus. Nachdem sie sich ein paar Schritte entfernt hatte, ließ sich Ciri kraftlos in den Sand fallen, atmete schwer und zitterte unter den Wellen von Adrenalin, die Kehle und Schläfen angriffen. Das Einhorn ging im Bogen um sie herum. Es schritt schwerfällig, aus der Wunde am Bein rann ihm Blut hinunter zur Fessel, dass die Schritte von einer blutigen Spur markiert wurden. Ciri kam auf alle viere und übergab sich heftig. Nach einer Weile stand sie auf, ging wankend zu dem Einhorn, doch Pferdchen ließ sich nicht berühren. Es lief weg, worauf es sich auf die Seite legte und im Sand wälzte. Und dann säuberte es das Horn, indem es es mehrfach in den Sand stieß.

Ciri reinigte ihrerseits die Dolchklinge und wischte sie ab, wobei sie immer wieder unruhige Blicke zu dem nahen Trichter warf. Das Einhorn stand auf, wieherte, kam im Schritt auf sie zu.

»Ich würde mir gern deine Wunde ansehen, Pferdchen.«

Pferdchen wieherte und schüttelte den gehörnten Kopf.

»Dann eben nicht. Wenn du gehen kannst, lass uns gehen. Wir sollten lieber nicht hierbleiben.«

 

Wenig später erschien auf ihrem Weg die nächste ausgedehnte Sandpfanne, die bis zu den sie begrenzenden Felsen mit in den Sand gegrabenen Trichtern übersät war. Ciri betrachtete sie entsetzt – manche Trichter waren mindestens doppelt so groß wie der, in dem sie unlängst um ihr Leben gekämpft hatten.

Sie wagten es nicht, die Sandpfanne zu überqueren, indem sie zwischen den Trichtern lavierten. Zwar war Ciri überzeugt, dass die Trichter Fallen für unvorsichtige Opfer und die darin sitzenden Monster mit den langen Scheren nur für Wesen gefährlich waren, die hineinfielen. Wenn man Vorsicht übte und sich von den Vertiefungen fernhielt, konnte man die Sandfläche überqueren, ohne Angst zu haben, eins der Ungeheuer könne aus dem Trichter klettern und Jagd auf einen machen. Sie war sich sicher, dass kein Risiko bestand – doch sie wollte lieber nicht die Probe aufs Exempel machen. Das Einhorn war sichtlich ähnlicher Meinung – es wieherte, schnaubte und lief fort, zog sie von der Sandpfanne weg. Sie legten ein gutes Stück Weges zurück, indem sie das gefährliche Terrain in weitem Bogen umgingen, sich bei den Felsen und auf festem steinigem Grund hielten, durch den keine der Bestien sich durchzugraben imstande wäre.

Unterwegs wandte Ciri kein Auge von den Trichtern. Ein paarmal sah sie, wie aus den mörderischen Fallen Fontänen von Sand emporschossen – die Ungeheuer vertieften und erneuerten ihre Wohnsitze. Manche Trichter lagen so dicht beeinander, dass der von einem Monster herausgeworfene Kies in andere Vertiefungen fiel, die am Boden verborgenen Geschöpfe alarmierte, und dann begann eine furchteinflößende Kanonade, eine Weile lang pfiff und prasselte der Sand umher wie Hagel.

Ciri fragte sich, worauf die Sandungeheuer in der wasserlosen und toten Einöde Jagd machten. Die Antwort stellte sich von selbst ein – aus einer der nächsten Vertiefungen kam in hohem Bogen ein dunkler Gegenstand geflogen, der unweit von ihnen zu Boden fiel. Nach kurzem Zögern ging sie von den Felsen herunter auf den Sand. Was aus dem Trichter geflogen war, erwies sich als die Leiche eines Nagetiers, das an ein Kaninchen erinnerte. Zumindest, was das Fell anging. Denn der Kadaver war zusammengekrümmt, hart und trocken wie Werg, leicht und leer wie eine Blase. Es war kein einziger Tropfen Blut darin. Ciri schauderte – sie wusste nun, worauf die Scheusale Jagd machten und wie sie sich ernährten.

Das Einhorn wieherte warnend. Ciri blickte auf. In der nächsten Umgebung gab es keine Trichter, der Sand war eben und glatt. Doch vor ihren Augen wallte dieser ebene und glatte Sand plötzlich auf, und die unruhige Stelle bewegte sich schnell auf sie zu. Sie warf den ausgesaugten Balg fort und lief rasch zu den Felsen.

Die Entscheidung, die Sandpfanne zu meiden, hatte sich als sehr richtig erwiesen.

Sie gingen weiter, umgingen sogar die kleinste Sandfläche, hielten sich ausschließlich auf festem Boden.

Das Einhorn ging langsam, stolperte dabei. Aus seinem verletzten Schenkel floss immer noch Blut. Doch nach wie vor erlaubte es ihr nicht, näher zu kommen und die Wunde zu untersuchen.

 

Die Sandpfanne wurde wesentlich schmaler und begann sich zu winden. Der feine und lockere Sand wich grobem Kies, dann Geröll. Trichter hatten sie schon lange nicht mehr gesehen, also beschlossen sie, auf dem durch die Sandpfanne vorgezeichneten Weg zu gehen. Obwohl sie erneut von Durst und Hunger gequält wurde, begann Ciri, sich schneller zu bewegen. Es gab Hoffnung. Die steinige Sandpfanne war gar keine. Es war das Bett eines Flusses, der von den Bergen her kam. In dem Flussbett war kein Wasser, doch es führte zu den Quellen – die zu schwach und zu unergiebig waren, um das Bett zu füllen, aber gewiss ausreichten, um sich sattzutrinken.

Sie ging schneller, musste ihren Schritt jedoch wieder verlangsamen. Denn das Einhorn bewegte sich immer schwerfälliger. Es ging mit sichtlicher Mühe, stolperte, zog ein Bein nach, stellte den Huf schräg. Als es Abend wurde, legte es sich hin. Es stand nicht auf, als sie herantrat. Es erlaubte ihr, sich seine Wunde anzusehen. Es waren zwei Wunden, beiderseits des stark geschwollenen, heißen Schenkels. Beide Wunden waren entzündet, beide bluteten immer noch, aus beiden floss zusammen mit dem Blut klebriger, widerlich riechender Eiter.

Das Ungeheuer war giftig gewesen.

 

Tags darauf war es noch schlimmer. Das Einhorn konnte kaum gehen. Am Abend legte es sich auf die Steine und wollte nicht mehr aufstehen. Als sie sich neben ihm hinkniete, berührte es den verwundeten Schenkel mit Nüstern und Horn, wieherte. In diesem Wiehern lag Schmerz.

Der Eiter lief immer stärker, der Geruch war abstoßend. Ciri holte den Dolch hervor. Das Einhorn schrie mit dünner Stimme, versuchte aufzustehen, stürzte mit dem Hinterteil auf die Steine.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll  ...«, schluchzte sie und schaute auf die Klinge. »Ich weiß es wirklich nicht  ... Sicherlich muss man die Wunde aufschneiden, Eiter und Gift herausdrücken  ... Aber ich kann das nicht! Womöglich verletze ich dich noch schlimmer!«

Das Einhorn versuchte den Kopf zu heben, wieherte. Ciri setzte sich auf die Steine, hielt sich den Kopf mit den Händen.

»Zu heilen hat man mir nicht beigebracht«, sagte sie bitter. »Sie haben mir beigebracht zu töten und mir erklärt, dass ich auf diese Weise Leben retten kann. Das war eine große Lüge, Pferdchen. Sie haben mich belogen.«

Die Nacht brach herein, es wurde rasch dunkel. Das Einhorn lag da, Ciri überlegte fieberhaft. Sie sammelte Kraut und Stengel, die am Ufer des ausgetrockneten Flusses reichlich wuchsen, doch Pferdchen wollte nichts essen. Den Kopf hatte es kraftlos auf die Steine gelegt, versuchte nicht mehr, ihn zu heben. Es blinzelte nur mit den Augen. In seiner Schnauze erschien Schaum.

»Ich kann dir nicht helfen, Pferdchen«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich habe nichts  ...«

Außer der Magie.

Ich bin Zauberin.

Sie stand auf, streckte die Hände aus. Nichts. Sie brauchte viel magische Energie, doch es gab keine Spur davon. Das hatte sie nicht erwartet, sie war überrascht. Wasseradern gibt es doch überall. Sie tat ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung. Sie begann im Kreis zu gehen. Sie ging zurück.

Nichts.

»Du verfluchte Wüste!«, schrie sie und ballte die Fäuste. »In dir gibt es nichts! Weder Wasser noch Magie! Dabei sollte Magie doch überall sein! Das war auch gelogen! Alle haben mich belogen, alle!«

Das Einhorn wieherte.

Magie ist überall. Sie ist im Wasser, in der Erde, in der Luft  ...

Und im Feuer.

Ciri hieb sich wütend mit der Faust an die Stirn. Das war ihr zuvor nicht eingefallen, vielleicht, weil es dort zwischen den kahlen Steinen nicht einmal etwas zu verbrennen gegeben hatte. Doch jetzt hatte sie trockenes Kraut und Stengel zur Hand, und um einen winzigen Funken zu erzeugen, sollte das bisschen Energie ausreichen, das sie noch in sich fühlte  ...

Sie sammelte mehr Stengel, legte sie zu einem Haufen zusammen, ringsum trockenes Kraut. Vorsichtig streckte sie die Hand aus.

»Aenye!«

Der Haufen wurde heller, eine Flamme begann zu flackern, wurde stärker, erfasste die Blätter, verzehrte sie, schoss nach oben. Ciri warf noch mehr Stengel hinein.

Was jetzt, dachte sie, während sie die lebhafter werdende Flamme betrachtete. Schöpfen? Wie? Yennefer hatte ihr verboten, die Energie des Feuers anzurühren  ... Aber mir bleibt keine Wahl! Und keine Zeit! Ich muss handeln! Die Stengel und Blätter verbrennen schnell  ... Das Feuer wird erlöschen  ... Das Feuer  ... Wie schön es ist, wie warm  ...

Sie wusste nicht, wann und wie es geschah. Sie schaute ins Feuer und spürte plötzlich einen Druck in den Schläfen. Sie fasste sich an die Brust, hatte das Gefühl, die Rippen würden ihr bersten. Im Unterbauch, im Schritt und in den Brustwarzen begann ein Schmerz zu hämmern, der sich augenblicklich in entsetzliche Lust verwandelte. Sie stand auf. Nein, sie stand nicht auf. Sie schoss empor.

Die Kraft erfüllte sie wie geschmolzenes Blei. Die Sterne am Himmel begannen zu tanzen, als spiegelten sie sich auf der Oberfläche eines Teiches. Der im Westen flammende Stern, den sie Auge genannt hatte, explodierte in Helligkeit. Sie nahm diese Helligkeit und zusammen mit ihr die Kraft.

»Hael, Aenye!«

Das Einhorn wieherte wild und versuchte aufzustehen, stützte sich auf die Vorderhufe. Ciris Hand hob sich von selbst, formte von selbst eine Geste, der Mund rief von selbst den Spruch. Aus den Fingern strömte eine sprühende, wogende Helligkeit. Das Feuer loderte fauchend auf.

Die aus ihrer Hand hervorbrechenden Lichtwogen berührten den verletzten Schenkel des Einhorns, sammelten sich, drangen ein.

»Ich will, dass du gesund bist! Ich will es! Vess’hael, Aenye!«

Die Kraft explodierte in ihr, erfüllte sie mit wilder Euphorie. Das Feuer schoss empor, ringsum wurde es heller. Das Einhorn hob den Kopf, wieherte, sprang dann plötzlich auf, tat ungeschickt ein paar Schritte. Es streckte den Hals aus, berührte mit der Schnauze den Schenkel, bewegte die Nüstern, schnaubte – wie ungläubig. Es wieherte laut und anhaltend, bäumte sich auf, schlug mit dem Schweif und lief im Galopp ums Feuer.

»Ich habe dich geheilt!«, schrie Ciri stolz. »Geheilt! Ich bin eine Zauberin! Es ist mir gelungen, Kraft aus dem Feuer zu schöpfen! Ich habe diese Kraft! Ich kann alles!«

Sie wandte sich um. Das Feuer prasselte, versprühte Funken.

»Wir brauchen keine Quellen mehr zu suchen! Wir brauchen keinen ausgegrabenen Morast mehr zu trinken! Ich habe jetzt Kraft! Ich spüre die Kraft, die in diesem Feuer ist! Ich werde bewirken, dass es in dieser verfluchten Wüste regnet! Dass Wasser aus den Felsen springt! Dass hier Blumen wachsen! Gras! Kohlrabi! Ich kann jetzt alles! Alles!«

Mit einer heftigen Bewegung hob sie beide Hände, rief Sprüche und skandierte Beschwörungen. Sie verstand sie nicht, erinnerte sich nicht, wann sie sie gelernt und ob sie sie jemals angewandt hatte. Es hatte keine Bedeutung. Sie spürte Macht, spürte Kraft, brannte wie das Feuer. Sie war das Feuer. Sie zitterte vor Kraft, die sie durchdrang.

Den Nachthimmel durchschnitt plötzlich das Band eines Blitzes, zwischen Steinen und Pflanzen heulte ein Windstoß auf. Das Einhorn wieherte durchdringend und bäumte sich auf. Das Feuer schoss empor, explodierte. Die gesammelten Stengel und Blätter waren längst verbrannt, jetzt brannte der Fels selbst. Doch Ciri beachtete das nicht. Sie spürte die Kraft. Sie sah nur das Feuer. Sie hörte nur das Feuer.

Du kannst alles, flüsterten die Flammen, du hast dir unsere Kraft angeeignet, du kannst alles. Die Welt liegt dir zu Füßen. Du bist groß. Du bist mächtig.

Zwischen den Flammen eine Gestalt. Eine hochgewachsene junge Frau mit langen, glatten pechschwarzen Haaren. Die Frau lacht, wild, grausam, das Feuer umtost sie.

Du bist mächtig! Die dir ein Leid zugefügt haben, wussten nicht, mit wem sie sich anlegen! Räche dich! Zahl es ihnen heim! Zahl es allen heim! Sie sollen vor Angst zu deinen Füßen zittern, sie sollen mit den Zähnen klappern, sie sollen es nicht wagen, aufzublicken zu deinem Gesicht! Es soll ihnen leidtun! Du aber sollst kein Mitleid kennen! Zahl es ihnen heim! Zahl allen alles heim! Rache!

Hinter dem Rücken der Schwarzhaarigen Feuer und Rauch, im Rauche Reihen von Galgen, von Pfählen, Schafotte und Gerüste, Berge von Leichen. Das sind die Leichen der Nilfgaarder, derer, die Cintra erobert und geplündert haben, die König Eist und ihre Großmutter Calanthe erschlagen, die Menschen auf den Straßen der Stadt ermordet haben. Am Galgen baumelt ein Ritter in schwarzer Rüstung, der Strick knirscht, ringsum drängen sich Raben, die versuchen, ihm durchs Visier des geflügelten Helms die Augen auszuhacken. Weitere Galgen ziehen sich bis zum Horizont hin, daran hängen die Scioa’tael, diejenigen, die in Kaedwen Paulie Dahlberg umgebracht haben, diejenigen, die sie auf der Insel Thanedd verfolgten. Auf einem hohen Pfahl zuckt der Zauberer Vilgefortz, sein schönes, täuschend edles Gesicht ist verzerrt und blauschwarz vor Qual, das spitze und blutige Ende des Pfahls ragt ihm am Schlüsselbein heraus  ... Die anderen Zauberer von Thanedd knien am Boden, ihre Hände sind hinterm Rücken gefesselt, und die angespitzten Pfähle warten schon  ...

Die mit Reisighaufen umgebenen Pfähle ziehen sich bis zum flammenden, von Rauchsäulen gezeichneten Horizont hin. Am nächsten Pfahl, mit Ketten festgemacht, steht Triss Merigold  ... Weiter Margarita Laux-Antille  ... Mutter Nenneke  ... Jarre  ... Fabio Sachs  ...

Nein. Nein. Nein.

Doch, schreit die Schwarzhaarige, Tod allen, zahl es ihnen allen heim, verachte sie alle! Sie alle haben dich gekränkt oder wollten dich kränken! Vielleicht werden sie dich eines Tages kränken wollen! Verachte sie, denn die Zeit der Verachtung ist gekommen! Verachtung, Rache und Tod! Tod der ganzen Welt! Tod, Vernichtung und Blut!

Blut an deinen Händen, Blut dort überall ...

Sie haben dich verraten! Dich getäuscht! Dich gekränkt! Jetzt hast du die Macht, räche dich!

Yennefers Lippen sind aufgesprungen, zerschlagen, sie bluten, an ihren Händen und Füßen sind Fesseln, schwere Ketten, an den nassen und schmutzigen Wänden des Kerkers befestigt. Das ums Schafott versammelte Volk johlt, der Dichter Rittersporn legt den Kopf auf den Block, die Schneide des Henkerbeils funkelt über ihm. Die unter dem Schafott versammelten Straßenjungen falten ein Tuch auf, um das Blut darin aufzufangen  ... Das Gebrüll der Menge übertönt den Schlag, unter dem das Gerüst erzittert  ...

Sie haben dich verraten! Belogen und betrogen! Alle! Du warst für sie eine Marionette, eine Puppe am Schnürchen! Sie haben dich ausgenutzt! Haben dich zum Hunger verurteilt, zu der sengenden Sonne, zum Durst, zur Heimatlosigkeit, zur Einsamkeit! Die Zeit der Verachtung und der Rache ist gekommen! Du hast die Kraft! Du bist mächtig! Die ganze Welt soll vor dir zittern! Die ganze Welt soll vor dem Älteren Blute zittern!

Aufs Schafott werden die Hexer geführt – Vesemir, Eskel, Coën, Lambert. Und Geralt  ... Geralt wankt, ist blutüberströmt  ...

»Nein!!!«

Rings um sie Feuer, hinter der Flammenwand ein wildes Wiehern, Einhörner bäumen sich auf, schütteln die Köpfe, schlagen mit den Hufen. Ihre Mähnen gleichen zerfetzten Kriegsbannern, ihre Hörner sind lang und scharf wie Schwerter. Die Einhörner sind groß, groß wie Schlachtrösser, viel größer als ihr Pferdchen. Wo kommen sie her? Wo kommen so viele von ihnen her? Die Flamme schießt fauchend empor. Die schwarzhaarige Frau hebt die Hände, an ihren Händen ist Blut. Ihre Haare verströmen Hitze.

Brenn, brenn, Falka!

»Fort! Geh weg! Ich will dich nicht! Ich will deine Macht nicht!«

Brenn, Falka!

»Ich will nicht!«

Du willst! Dich verlangt danach! Verlangen und Gier brennen in dir wie eine Flamme, die Lust hält dich gefangen! Das ist Macht, das ist Kraft, das ist Herrschaft! Die höchste Lust der Welt!

Ein Blitz. Donnern. Wind. Hufschlag und Wiehern der um das Feuer rasenden Einhörner.

»Ich will diese Kraft nicht! Ich will sie nicht! Ich entsage ihr!«

Sie wusste nicht, ob das Feuer verloschen oder ihr schwarz vor Augen geworden war. Sie fiel hin und spürte auf dem Gesicht die ersten Regentropfen.

 

Dem Wesen muss die Existenz genommen werden. Man darf nicht zulassen, dass es existiert. Das Wesen ist gefährlich. Bestätigung.

Widerspruch. Das Wesen hat die Kraft nicht für sich selbst herbeigerufen. Es hat es getan, um Ihuarraquax zu retten. Das Wesen hat Mitleid. Dank dem Wesen ist Ihuarraquax wieder unter uns.

Aber das Wesen hat die Kraft . Wenn es sie eines Tages gebrauchen will ...

Es wird sie nicht gebrauchen können. Niemals. Es hat ihr entsagt. Vollends. Die Kraft ist verschwunden. Das ist sehr seltsam ...

Wir werden die Wesen niemals verstehen.

Und wir brauchen sie nicht zu verstehen! Lasst uns dem Wesen die Existenz nehmen. Ehe es zu spät ist. Bestätigung.

Widerspruch. Wir wollen hier fortgehen. Das Wesen lassen wir zurück. Wir überlassen es seiner Vorherbestimmung.

 

Sie wusste nicht, wie lange sie auf den Steinen gelegen hatte, zitternd, den Blick gen Himmel gerichtet, der seine Farben wechselte. Es war abwechselnd dunkel und hell, kalt und heiß, sie aber lag da, kraftlos, ausgetrocknet und leer wie jener Balg, jener Kadaver des Nagetiers, der ausgesaugt und aus dem Trichter geworfen worden war.

Sie dachte an nichts. Sie war einsam, sie war leer. Sie hatte nichts mehr und fühlte in sich nichts. Da war kein Durst, kein Hunger, keine Erschöpfung, keine Furcht. Alles war verschwunden, sogar der Wille zu überleben. Da war nur eine große, kalte, entsetzliche Leere. Sie empfand diese Leere mit ihrem ganzen Sein, mit jeder Zelle ihres Organismus.

Sie fühlte Blut an der Innenseite ihrer Schenkel. Es war ihr gleichgültig. Sie war leer. Sie hatte alles verloren.

Der Himmel wechselte seine Farben. Sie bewegte sich nicht. Hatte es denn in der Wüste irgendeinen Sinn, sich zu bewegen?

Sie bewegte sich nicht, als in ihrer Nähe Hufschlag erklang, Hufeisen klirrten. Sie reagierte nicht auf die lauten Rufe, auf die erhobenen Stimmen, auf das Schnauben der Pferde. Sie bewegte sich nicht, als harte, starke Hände sie ergriffen. Als man sie aufhob, hing sie schlaff herab. Sie reagierte nicht, als man an ihr zerrte und sie schüttelte, nicht auf die scharfen, heftigen Fragen. Sie verstand sie nicht und wollte sie nicht verstehen.

Sie war leer und gleichgültig. Gleichgültig nahm sie das Wasser hin, das ihr aufs Gesicht spritzte. Als man ihr eine Feldflasche an den Mund hielt, sträubte sie sich nicht. Sie trank. Gleichgültig.

Auch später war sie gleichgültig. Sie wurde auf einen Sattel gezogen. Im Schritt war sie empfindlich und hatte Schmerzen. Sie zitterte, also wurde sie in eine Pferdedecke gehüllt. Sie war kraftlos und schlaff, rutschte aus den Händen, also wurde sie mit einem Gürtel an dem hinter ihr sitzenden Reiter festgebunden. Der Reiter stank nach Schweiß und Urin. Es war ihr gleichgültig.

Ringsum waren Berittene. Viele Berittene. Ciri betrachtete sie gleichgültig. Sie war leer, hatte alles verloren. Nichts hatte mehr eine Bedeutung.

Nichts.

Nicht einmal, dass der Ritter, der die Berittenen befehligte, am Helm die Flügel eines Raubvogels trug.